Warum ich keine englischen Bücher lese

Oder genauer: Warum ich englischsprachige Literatur nicht im Original lese.

Um es gleich zu sagen: Warum sollte ich?
Ich bin Übersetzerin, ich habe beruflich den ganzen Tag ein englisches Buch vor der Nase und befasse mich intensiv damit. Was ich darüber hinaus zum Spaß lese, muss nicht auch noch auf Englisch sein. Zum einen deswegen, weil ich mein Übersetzergehirn nicht einfach ausschalten kann – wenn ich Englisch lese, läuft in meinem Kopf immer die Übersetzung mit, wie Untertitel. Ich bleibe an Formulierungen hängen, weil ich überlege, wie ich sie übersetzen würde, ich will nachschlagen, wenn ich ein Wort nicht kenne, statt es einfach zu überlesen, und ich will mir eine Notiz machen, wenn mir spontan eine schöne deutsche Wendung einfällt. Das alles hält nicht nur auf, es hemmt nicht nur den Lesefluss, sondern es nervt auch kolossal.
Zweitens fällt es mir schlicht leichter, Deutsch zu lesen als Englisch. Fremdsprachenkompetenz hin oder her, Deutsch ist meine Muttersprache, natürlich liest sich das leichter. Ähnlich wie die Untertitel beim Englischlesen habe ich allerdings auch beim Deutschlesen immer den Rotstift im Kopf. Ich korrigiere in Gedanken, permanent. Auch im Deutschen denke ich ständig über Formulierungen nach, finde die eine hübsch und möchte sie mir merken, die andere gerade nicht. Aber es nervt nicht so wie das ewige Mitübersetzen beim Englischlesen.
Und drittens und wichtigstens schmort man als Übersetzer normalerweise sehr im eigenen Saft. Wir sitzen allein zu Hause am Schreibtisch und produzieren Text, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Der wird dann zwar noch lektoriert, aber es besteht doch eindeutig die Gefahr, sich Macken anzugewöhnen, persönliche Vorlieben und Idiosynkrasien überhand nehmen zu lassen, immer dieselben Lieblingsformulierungen zu benutzen und immer dieselben Ungeschicklichkeiten zu begehen, weil man sie einfach nicht bemerkt. Und deswegen ist es umso wichtiger, regelmäßig das Deutsch anderer Leute zu tanken. Ob diese anderen Leute Autoren oder Übersetzer sind, ist dabei eigentlich egal, denn wichtig ist ja nicht, ob sie sich eine Geschichte ausdenken können, sondern ob sie Deutsch können. Und das, stellt der Rotstift in meinem Kopf immer wieder fest, können Autoren und Übersetzer gleich gut. Oder gleich schlecht. Es gibt Autoren, die ein wunderbares Deutsch schreiben, und es gibt Autoren, die den Konjunktiv nicht beherrschen oder Probleme mit Relativsätzen haben. Es gibt Übersetzer, die ein wunderbares Deutsch schreiben, und es gibt Übersetzer, die den Konjunktiv nicht beherrschen oder Probleme mit Relativsätzen haben. Den Übersetzern werden sprachliche Schwächen allerdings eher angekreidet als den Autoren; wer Probleme mit Relativsätzen hat, kann durchaus einen deutschen Buchpreis bekommen, aber keinen Übersetzerpreis.
Den Rotstift habe ich sowieso im Kopf, egal, ob ein Buch auf Deutsch geschrieben oder ins Deutsche übersetzt wurde. Und ich merke relativ schnell, ob ich ihn beiseite legen und mich entspannen kann, oder eben nicht. Bei vielen Autoren und Übersetzern kann ich es, bei manchen nicht, und wenn es ganz schlimm ist, kann ich das Buch nicht zu Ende lesen, weil ich zu pingelig bin und mich aufregen muss. Das gilt für deutsche Originale ebenso wie für übersetzte Bücher.
Viertens schließlich bin ich neugierig und möchte oft einfach mal etwas von einem bestimmten Kollegen lesen. Natürlich gibt es auch Kollegen, von denen ich nichts mehr lesen will. Es gibt ja auch Autoren, von denen ich nichts mehr lesen will.

Ja, aber!, höre ich es da rufen, große Autoren muss man doch! Im Original! Weil! – Ja, warum eigentlich? Weil, erstens, das Original so was Ähnliches wie heilig ist, und eine Übersetzung so was wie eine Fälschung. Als Übersetzer merkt man allerdings irgendwann, dass Originale gar nicht so heilig sind, dass auch große Autoren tatsächlich Menschen sind, die Fehler machen und Ungeschicklichkeiten begehen, und dass nicht jeder einzelne ihrer Sätze gut, wahr und schön ist. Man hat sogar schon von Übersetzungen gehört, die besser gewesen seien als das Original. Der zweite Grund, der gerne für das Original angeführt wird, ist, dass man vieles doch gar nicht übersetzen könne. Dass es doch Wortspiele und sprachliche Besonderheiten eines Autors und gewollte Ecken und Kanten gebe, die sich gar nicht direkt übertragen lassen. Das stimmt natürlich. Und stimmt natürlich auch nicht. Es ist nämlich so: man kann ja sowieso keine Wörter übersetzen, fast nie. Aber Texte kann man übersetzen. Fast immer (vgl. hier). Und wenn es ein wortspielreicher Text ist, bin ich umso gespannter, was der Übersetzer daraus gemacht hat.

Ich glaube an meinen Beruf. Und ich liebe meine Sprache. Deswegen lese ich gerne auf Deutsch.

12 Kommentare

  1. Katy Dienstag, 14. September 2010 um 10:47 Uhr [Link]

    Gut überlegt. Bei mir ist es aber so, dass es die Bücher, die ich lesen will, oft – nein, meistens – nicht in meiner Muttersprache gibt. Und wenn ein Buch mich fesselt schaltet sich der Übersetzerreflex aus. Aber auch ich lese gern Übersetzungen in meine Sprache, nur nicht andersrum – weil ich dann doch ewig rätsele, wie das wohl im Original hieß.

  2. Isabel Bogdan Dienstag, 14. September 2010 um 11:24 Uhr [Link]

    Du bist ja auch als Scout tätig und empfiehlst englischen Verlagen deutsche Literatur. Das fällt bei uns weg, weil die deutschen Verlage den englischsprachigen Markt selbst beobachten und ohnehin alles über Agenten läuft.

  3. Lydia Dienstag, 14. September 2010 um 16:37 Uhr [Link]

    Schützenhilfe aus Autorensicht: Dein Post von heute führt mich zu der Frage zurück, was schwieriger ist, Schreiben oder Übersetzen. Als ich Deinen Post vom 7. Juli las, musste ich Deiner Freundin aus vollem Herzen recht geben. Und wenn ich dann überlege, wie ich an jedem meiner Texte sofort anfange herumzufeilen, sobald ich nur ein paar Zeilen lese, egal ob aktuell oder alt, egal ob veröffentlicht oder nicht, dann kann ich nur sagen: Ein Text ist nie fertig und immer nur eine Annäherung an ein imaginiertes Ideal. (Etwas Ähnliches sagt übrigens Swetlana Geier in dem Film „Die Frau mit den fünf Elefanten“ über das Übersetzen.) Was ich damit sagen will: Der Punkt, an dem ein Autor seinen Text loslässt oder loslassen muss, ist wahrscheinlich sehr viel öfter von Abgabeterminen oder anderen Deadlines bestimmt als von der Überzeugung, wirklich nichts mehr verbessern zu können. Von daher relativiert sich die Vorstellung des als heilig betrachteten Originals doch sehr.

    Sehr lange war ich übrigens auch von der Überzeugung beflügelt, Literatur der Sprachen, die ich irgendwann mal gelernt habe, im Original lesen zu müssen. Da ich in einigen Sprachen eine gewisse Kenntnis erworben hatte, allerdings keinen großartigen Wortschatz, war das so mühsehlig, dass ich damit nicht sehr weit kam. Irgendwann zog ich für mich den Schluss: Lieber die Bücher, die mich interessieren, in Übersetzung lesen, als sie ungelesen im Original herumstehen zu haben. Und Du gibst mir jetzt noch Argumente, dass das eigentlich gar nicht so schlimm ist.

    Dein Blog verfolge ich seit ein paar Wochen mit Begeisterung. Du packst interessante Themen an und bringst die Sachen einfach auf den Punkt. Das gefällt mir!

  4. Katy Dienstag, 14. September 2010 um 17:14 Uhr [Link]

    Mich selbst einen Scout zu nennen finde ich übertrieben. Ich empfehle gern Titel, habe aber leider nur das Ohr von recht wenigen Leuten und verdiene keinen Cent damit.

  5. Lucy Jones Dienstag, 14. September 2010 um 17:18 Uhr [Link]

    Isabel,
    ich finde Du musst Dich gar nicht rechtfertigen! Aber ich verstehe, dass es manchmal ein Bloggerbedürfnis (auch ein Nichtbloggerbedürfnis, wie Du siehst, da ich hier eigentlich nur Trittbrett fahre) gibt, sich an seine imaginäre Kritiker zu wenden, kurz nach dem Aufstehen meistens, wenn man frisch von Alptraum zurück ist. Im Ernst – und das hat mir eine Frau, die ich sehr respektiere, mit auf dem Weg gegeben: Man muss ja schließlich Frau seiner eigener Sprache sein. Ergo sum: ließ mal deutsche Bücher weiter! Und ich werde weiter genüsslich englische Bücher (die ich genauso vielfältig und phantastisch finde wie Du deutsche) in meiner Freizeit lesen. Ohne schlechtes Gewissen. Ohne Alpträume von Kritikern.

  6. Isabel Bogdan Dienstag, 14. September 2010 um 17:20 Uhr [Link]

    Katy, ist doch gar nicht übertrieben: Du kennst Dich mit deutscher Literatur aus und empfiehlst sie denen, die es hören wollen. (Was genau war noch mal „verdienen“? *seufz*)

  7. Isabel Bogdan Dienstag, 14. September 2010 um 17:44 Uhr [Link]

    Lucy, die Frage scheint meine Blogleser tatsächlich zu beschäftigen. Jedenfalls werde ich immer wieder gefragt, warum ich so wenig bis gar keine englischen Bücher lese. Da dachte ich, ich erkläre das mal. (Meistens habe ich das gar nicht als Kritik empfunden, sondern eher als Verwunderung.)

  8. adelhaid Dienstag, 14. September 2010 um 21:03 Uhr [Link]

    hm. ja. kann ich verstehen. bzw, nachvollziehen. der ewige rotstift, der mitläuft. und auch, dass das lesen in der muttersprache einfacher ist, leichter, nicht so anstrengend, und irgendwann will man sich ja auch mal entspannen.
    aber trotzdem halte ich es für mich eigentlich so, dass ich lieber die stimme des autors höre (soweit ich es kann). ich meine mich nämlich auch daran zu erinnern, dass du mal über eine buchkritik geschrieben hast, in welcher die sätze und ausdrücke und wasweißich des buches gelobt wurden, und immer und immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass das ja alles so toll ist, was dieser autor da macht – und dabei waren es deine worte, deine ausdrücke und deine konstruktionen, die die deutsche fassung so lobenswert gemacht haben (und dann wurde mal wieder nicht erwähnt, wer’s erfunden hat).
    spätestens seit dem bin ich noch überzeugtere ‚original-leserin‘ geworden.
    aber: jeder, wie er mag.

  9. Isabel Bogdan Dienstag, 14. September 2010 um 23:32 Uhr [Link]

    „Immer und immer wieder“ bezog sich wohl eher auf die Gesamtheit der Rezensionen, in denen die Sprache des Autors gelobt wird, obwohl der Rezensent eine Übersetzung gelesen hat. Nicht akut auf mich.

  10. britta Mittwoch, 15. September 2010 um 00:05 Uhr [Link]

    Ich habe während meines Studiums nur noch englischsprachige (und französischsprachige) Literatur gelesen. Seit ein paar Jahren lese ich dagegen fast nur noch deutschsprachige Belletristik (Originale und Übersetzungen), und erst da habe ich eigentlich entdeckt, wie schön die deutsche Sprache ist. Fürs Übersetzen brauche ich die Lektüre in meiner Muttersprache unbedingt. Ich kann eigentlich alles unterschreiben, was Du da oben sagst – bis auf das Lesen mit Übersetzerlupe, das kenn ich von mir selbst nur bei deutschen Texten.

  11. Isabel Bogdan Mittwoch, 15. September 2010 um 00:05 Uhr [Link]

    Danke, Lydia! (Und sorry, dass es so lange gedauert hat mit dem Freischalten – ein paar Kommentare landen immer im Spam, weiß der Geier warum, und darüber bekomme ich keine Mail. Ich muss sie also irgendwann zufällig finden. Keine Ahnung, wie ich das abstellen kann.)
    Jedenfalls: jemand sagte mal „Übersetzen ist ein Mehlsack“ – und das gilt fürs Schreiben sicher genauso: man meint, man hätte ihn ausgeleert, alles Mehl sei raus, aber wenn man mal draufklopft, kommt immer noch eine Staubwolke raus. Immer. Auch wenn man schon tausend Mal alles abgeklopft hat. In sofern sind Abgabetermine ein Segen, sonst würde man ja nie fertig.

  12. Gaga Nielsen Donnerstag, 16. September 2010 um 00:59 Uhr [Link]

    ich verstehe dich
    (wollte ich dir nur sagen, spät in der Nacht)

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